
Am Abgrund: EDGE-Arten
Viele stark gefährdete EDGE-Arten sind kaum bekannt, schlecht erforscht und werden von bestehenden Schutzmassnahmen nicht erfasst. Doch diese genetisch aussergewöhnlichen Arten sind eigentlich besonders schutzwürdig.

EDGE setzt neue Artenschutzprioritäten
Angesichts der riesigen Zahl gefährdeter Arten und der begrenzten finanziellen Mittel ist die Priorisierung von Artenschutzzielen entscheidend. Zu diesem Zweck wurde die EDGE- Methode entwickelt. Sie zeigt an, wie unersetzlich und global bedroht eine Art ist.
​
Fokussiert man praktischen Artenschutz auf Spezies, die evolutionär aussergewöhnlich (ED) und global bedroht sind (GE), so kann man verhindern, dass ein unverhältnismässig grosser Teil der Evolutionsgeschichte in naher Zukunft ausstirbt.
Der EDGE-Score, der erstmals 2007* veröffentlicht wurde, misst im Wesentlichen den Beitrag einer Art zur stammesgeschichtlichen Vielfalt und kombiniert ihn mit ihrer globalen Bedrohung gemäss der Kategorie der Roten Liste der IUCN. Der Score kann verwendet werden, um EDGE-Arten pro Gruppe zu priorisieren, wobei der höchste Rang 1 ist. Der Score ist unabhängig von der Gruppengrösse in Abstammungslinien mit mehr als 100 Arten, was nahelegt, dass die Werte nicht verwandter taxonomischer Gruppen wahrscheinlich vergleichbar und robust gegenüber taxonomischen Änderungen sind. *Isaac NJB et al., Mammals on the EDGE: Conservation priorities based on threat and phylogeny (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0000296).


Evolutionäre Einzigartigkeit ist eine Folge unabhängiger Entwicklung, z. B. während 0,06 Millionen Jahren für 19 Mausarten im Vergleich zu 97,6 Millionen Jahren (!) für das (evolutionär einzigartige) Schnabeltier. Es gibt mehr als tausend Arten von mausähnlichen Nagetieren wie die Waldmaus, aber nur eine Schnabeltierart. Diese ist auch viel älter als die Waldmaus, die als genetisch eigenständige Art erst seit weniger als hunderttausend Jahren existieren dürfte. Schnabeltiere sind daher (unter Annahme ähnlicher Bedrohung) schützenswerter.
Eine rationale Grundlage für die Wahl von Zielarten
​​Die evolutionäre Besonderheit ist bei den am wenigsten gefährdeten Arten (je nach Kategorie der Roten Liste der IUCN) deutlich geringer als bei stärker bedrohten Arten (potentiell gefährdeten und von Schutzmassnahmen abhängigen; gefährdeten; stark gefährdeten; und kritisch bedrohten). Bei der EDGE-Bewertung verdoppelt sich das Aussterberisiko mit jeder Stufe der Kategorie der Roten Liste.
​Niedrige EDGE-Werte (Evolutionary Distinctiveness and Global Endangerment) bedeuten eine geringere Schutzpriorität als höhere.
Der Gefährdungsstatus allein garantiert jedoch keine hohe Schutzpriorität. So qualifizieren sich 10 kritisch bedrohte Säugetierarten (Gattungen Gerbillus, Peromyscus und Crocidura) sowie 32 stark gefährdete Säugetierarten nicht für die Top-1000 Schutzprioritäten, sehr wohl jedoch 130 nur potentiell gefährdete Arten.
Darstellung eines EDGE Score

©edgeofexistence.org, Zoological Society of London.
EDGE-Score des Westlichen Langschnabeligels, Zaglossus brujinii Der EDGE-Score (gelber Balken) kombiniert eine Bewertung von ED (evolutionäre Besonderheit) und GE (globale Gefährdung). Dies hilft bei der Festlegung von Prioritäten für den Artenschutz. Innerhalb einer Gruppe von Arten bedeuten höhere Werte eine höhere Priorität. Das rechte Ende des gelben horizontalen Balkens zeigt, wie hoch der EDGE-Wert dieser Art im Vergleich zum Median aller Arten innerhalb ihrer taxonomischen Gruppe ist (senkrechte schwarze Linie). Der ED-Score (schwarzer horizontaler Balken) steht für die einzigartige Evolutionsgeschichte dieser Art, ausgedrückt in Millionen von Jahren. Die senkrechte schwarze Linie zeigt den ED-Median für den Rest dieser taxonomischen Gruppe. Die GE-Einstufung (Global Endangerment) bzw. die Kategorie der Roten Liste der IUCN zeigt an, wie nahe diese Art dem Aussterben ist. Arten, die Verletzlich (VU), Stark Gefährdet (EN) oder Kritisch Bedroht (CR) sind, gelten als Arten mit einem erheblichen Aussterberisiko.
Vernachlässigte EDGE-Arten entdecken​
​
Das EDGE-Konzept hilft gegen unsere Vorliebe für uns vertraute Lebensformen (Säugetiere und Vögel). Einige charismatische, bekannte EDGE-Arten (etwa der Grosse Panda, der Afrikanische Elefant oder der Orang Utan) erhalten viel Aufmerksamkeit. Andere stark bedrohte EDGE-Arten sind hingegen kaum bekannt, schlecht erforscht und werden von den bestehenden Schutzmassnahmen häufig übersehen. Dabei sind diese - die nicht so eindrücklichen - genauso wichtig. In der Tat sind es vor allem kleine Krabbeltiere, die die Welt am Leben erhalten.
Unter den 100 Säugetierarten mit der höchsten EDGE-Priorität befinden sich zwar mehrere grosse charismatische, aber auch viele kleinere und weniger geschätzte Arten erhalten hohe Priorität, darunter 16 Nagetiere, 13 Eulipotyphla-Arten (Igel, Maulwürfe und spitzmausähnliche Arten), 12 Fledermäuse, 4 Lagomorphe (Hasenfamilie) und eine Elefantenspitzmaus.

Nach edgeofexistence.org, Zoological Society of London.​
Einige Kladen (taxonomische Gruppen) enthalten einen grossen Anteil EDGE-Arten, andere viel weniger. Während fast ein Drittel der Krokodil- und Schildkrötenarten als EDGE qualifizieren, gilt dies für 25 % der Nadelbäume und Palmfarne, aber nur für etwa 3 % der Blütenpflanzen. Solche Daten helfen, Prioritäten bei den Artenschutzmassnahmen zu setzen. Diese Grafik zeigt die Anzahl der EDGE-Arten pro Gruppe (von links nach rechts): Amphibien, Vögel, Krokodile, Strahlenflosser, Lepidosaurier (Schlangen, Eidechsen und Brückenechse), Säugetiere, Haie und Rochen, Schildkröten, Koniferen und Palmfarne, Blütenpflanzen.

Nach Gumbs et al., nature communications (2024)15:1101​
Diese Grafik zeigt den Anteil der bedrohten Arten in einer Gruppe, die auch zu ihren 1 % EDGE-Arten gehören. Dabei zeigt sich, dass Krokodile, Schildkröten, Rochen und Haie sowie Amphibien unter den Kieferwirbeltieren höchste Schutzpriorität haben. Diese Arten werden jedoch vom Artenschutz eher vernachlässigt.

Artenschützer sind vertraut mit Hotspots der Artenvielfalt, d. h. den biologisch reichsten und gleichzeitig gefährdetsten terrestrischen Ökoregionen weltweit (s. Karte). Mehr als die Hälfte der Pflanzenarten der Welt und fast 43 % der Amphibien-, Reptilien-, Vogel- und Säugetierarten kommen nur in Gebieten vor, die insgesamt nur 2,5 % der Landfläche der Erde ausmachen.
​
In ähnlicher Weise häufen sich EDGE-Arten in EDGE-Zonen, von denen weltweit 25 identifiziert wurden. Zusammen nehmen diese 0,723 % der Weltoberfläche ein, beherbergen aber ein Drittel der weltweiten Evolutionsgeschichte der bedrohten Vierbeiner. Die Hälfte von ihnen ist in der jeweiligen Zone endemisch (d.h. kommt weltweit nur dort vor).
© Pipins et al 2023, Advancing EDGE Zones spatial priorities, Biorxiv 2023, https://doi.org/10.1101/2023.08.15.553233
EDGE2: noch genauer
Im Jahr 2024 veröffentlichten Gumbs et al. das interdisziplinäre, konsensbasierte EDGE2-Protokoll*, um wichtige Forschungsfortschritte seit 2007 zu berücksichtigen und in die Naturschutzpraxis übernehmen zu können.
EDGE2 behält die Schlüsselelemente der stammesgeschichtlichen Unersetzlichkeit (ED) und der globalen Gefährdung (GE) bei. Anders als das ursprüngliche EDGE-Protokoll ermöglicht es jedoch die Quantifizierung des Aussterberisikos, enthält Methoden für den Umgang mit Unsicherheiten (z. B. datenarme oder nicht auswertbare Arten oder Unklarheiten stammesgeschichtlicher Daten) und berücksichtigt das Aussterberisiko eng verwandter Arten. *The EDGE2 protocol: Advancing the prioritisation of Evolutionarily Distinct and Globally Endangered species for practical conservation action. https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001991 Konzeptionell separiert EDGE2 manche Komponenten des Protokolls, so dass für zukünftige konsensbasierte Aktualisierungen nicht das gesamte Protokoll überarbeitet werden muss. Die wichtigsten Verbesserungen der EDGE2-Metrik sind die Einbeziehung der Komplementarität der stammesgeschichtlichen Vielfalt und die Erstellung eines probabilistischen Rahmens für die Berechnung der erwarteten Verluste an stammesgeschichtlicher Vielfalt im Falle des Aussterbens einer Art. Damit lassen sich sowohl der minimale Verlust einzigartiger stammesgeschichtlicher Vielfalt als auch die relative Bedeutung interner stammesgeschichtlicher Zweige für die evolutionäre Besonderheit einer Art abschätzen. Auch die Auswirkungen von Artenschutzmassnahmen lassen sich so quantifizieren. Während das EDGE-Protokoll von 2007 Arten mit einer über dem Median liegenden ED-Punktzahl (evolutionäre Besonderheit) als prioritär einstufte, müssen prioritäre EDGE2-Arten sowohl hinsichtlich der EDGE2-Punktzahl als auch des Aussterberisikos (GE2) bemerkenswert sein. Es muss sich um eine Art der Roten Liste handeln, kann aber jetzt auch eine in Wildbahn ausgestorbene Art sein, und sie muss mit 95 %iger Sicherheit über dem mittleren EDGE2-Score liegen. EDGE2 schlägt auch eine EDGE-Forschungsliste für Arten vor, die glaubhaft über dem mittleren EDGE2-Wert liegen, aber derzeit nicht bewertet werden können oder in der Roten Liste der IUCN als datenarm aufgeführt sind. In ähnlicher Weise definiert EDGE2 eine EDGE-Beobachtungsliste für am wenigsten gefährdete und potentiell gefährdete Arten, die mit 95%iger Sicherheit über dem mittleren EDGE2-Wert liegen. Die Erhaltung solcher Arten (z. B. Erdferkel und Schnabeltier) ist entscheidend für die Erhaltung tiefer Äste des Lebensbaums.

1wild-Prioritäten jenseits von EDGE
​
Über den EDGE-Schwerpunkt hinaus schenken wir auch Schlüsselarten (Arten, die für ein Ökosystem von zentraler Bedeutung sind, z. B. Ökosystemgestalter) und Ökosystemen oder Biomen von hoher Wichtigkeit (Biodiversitäts- und/oder EDGE-Hotspots) besondere Aufmerksamkeit. Und wir unterstützen bevorzugt Programme, für die keine ausreichenden Mittel für den Naturschutz zur Verfügung stehen.
Insgesamt ist unser Ansatz pragmatisch. Wir fühlen uns frei, jedes Erhaltungsprojekt zu unterstützen, das wir für wichtig erachten.